Nadbiskupovo korizmeno pastirsko pismo

»Verzichten, um erfüllt zu leben«.

Hirtenwort zur Fastenzeit 2024

Liebe Schwestern und Brüder!

von Herzen wünsche ich Ihnen eine erfüllte und gesegnete Fastenzeit 2024!

Im Abschnitt des Markusevangeliums, den wir am ersten Sonntag dieser Österlichen Bußzeit hören, berichtet der Evangelist von den ersten Worten Jesu am Beginn seines öffentlichen Wirkens: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe!« (Mk 1,15). Eine erfüllte Zeit in diesem Jahr 2024 – das scheint allen Erfahrungen in den ersten Wochen dieses Jahres zu widersprechen: An vielen Orten in der Welt, nicht nur in der Ukraine, in Israel und Palästina toben furchtbare Kriege. Die Zahl der Geflüchteten auch nach Deutschland ist wieder gewachsen und damit auch unsere Sorgen, wie wir ihnen gerecht werden können. Viele Menschen sorgen sich um die Wirtschafts- und die Finanzlage des Staates. Der Klimawandel schreitet weiter voran und die Spaltungen in unserer Gesellschaft zwischen arm und reich und zwischen den unterschiedlichen politischen Richtungen haben vielfach tiefe Gräben verursacht. Insbesondere Antisemitismus und Rechtspopulismus drohen unsere Gesellschaft zu zerreißen. Die zu beobachtende Tendenz, nur die eigene Sicht auf die Wirklichkeit gelten zu lassen und vorrangig aus eigenen Interessen zu handeln, macht es schwer, in naher Zukunft auf ein stärker von Verständnis und Verständigung getragenes Miteinander zu hoffen. Wer mag da noch von einer »erfüllten Zeit« sprechen? Wie gelangte Jesus gerade während seiner Zeit in der Wüste zu der Erkenntnis, dass das Reich Gottes nahe sei? Weshalb brachten ihn die Versuchungen und die Verzichtsleistungen, denen er dort ausgesetzt war, zu der Überzeugung, dass die Zeit erfüllt sei?

Sein Widerstand gegen die verlockenden Versuchungen bedeutete für ihn tatsächlich ein bewusstes Verzichten auf ihm vom Satan vorgeschlagene Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten. So verzichtete er darauf, aus Steinen Brot zu machen und sich damit als allmächtig darzustellen. Er verzichtete weiter darauf, Gott auf die Probe zu stellen und ihn in seiner Macht und Unbegreiflichkeit zum Handeln zu zwingen. Und er verzichtete darauf, vor dem Teufel niederzuknien, um von ihm eine teuflische Herrschaft über die ganze Welt zu erhalten. Kurzum, er verzichtete auf die Angebote des Teufels, in dieser Welt mächtig dazustehen und für sein Können bewundert zu werden.

Jesus verzichtet in seinen Entscheidungen sehr bewusst auf Lebensmöglichkeiten. Das Wort »verzichten« steht im Bewusstsein vieler Menschen nicht hoch im Kurs. Verzichten ist oft unbeliebt und wird zu vermeiden versucht, weil es häufig wehtut und schmerzlich ist. Es wird dabei allerdings schnell übersehen, dass verzichten meist auch einen sehr positiven Wert und eine das Leben kräftigende Wirkung hat. Verzicht befreit nicht selten von erdrückenden Lasten und Belastungen und öffnet den Blick für das Wesentliche im menschlichen Leben.

Zudem wenden Menschen im Prozess ihres Verzichtens oft große Mühen auf und erbringen manchmal erhebliche Opfer, weil das Ziel des Verzichtes, den sie eingehen, sinnvoll und vielleicht sogar lebensnotwendig für sie selbst, für einen anderen Menschen oder für die Gesellschaft ist. Was man im Verzichten erreicht oder erhält, ist damit bedeutender als das, worauf man verzichtet. So verzichten etwa Eltern auf manche Behaglichkeiten, tun dies aber in aller Regel mit großer Freude um ihrer Kinder willen, weil sie im Glück ihrer Kinder ihr tieferes eigenes Glück finden. Wer Verantwortung für einen Menschen übernimmt, übernimmt auch manche Last, er geht aber zugleich einen Weg, der ein Leben erfüllt leben lässt. Vieles, auf das man verzichtet, erweist sich als Abwurf von Ballast, der mehr wiegt als manches nur schwer zu überwindende »überflüssige Kilogramm«. Der Verzicht kann uns befreien. Und gleichzeitig können wir durch Verzicht beitragen zu einer besseren Welt, zu mehr Solidarität und zu einer größeren Gerechtigkeit.

Deshalb möchte ich am Beginn der Fastenzeit mit Ihnen nachdenken, welchen Lebenswert, welchen Wert auf dem Weg zur Lebensfülle ein Verzicht haben kann. Bitte überlegen Sie, wo Sie mit ihren Möglichkeiten aus Verantwortung für ein größeres Ganzes – im Privaten, aber auch im beruflichen, im kirchlichen wie im gesamtgesellschaftlichen Rahmen – bewusst auf etwas verzichten können und sollen. Damit machen Sie sich auf den Weg, den Jesus am Beginn seines öffentlichen Wirkens in der Wüste gegangen ist. Damals hat er sehr bewusst auf die Macht verzichtet, die der Teufel ihm versprochen hat. Er wusste, dass er nur so seinen Lebensauftrag erfüllen konnte, den Menschen zu verkünden, wer Gott ist und wie er handelt. Dieser Gott macht nicht aus Steinen Brot und stürzt sich nicht vom Felsen, sondern lässt sich am Kreuz erhöhen. Ohne die Absage an die teuflischen Angebote und den damit verbundenen Verzicht auf Macht und Ansehen, hätte er nicht den Gott verkündet, an den wir glauben.Drei Beispiele habe ich ausgewählt, die Sie anregen sollen zu überlegen, wie wir heute aus dem Geist Jesu verzichten und auf diese Weise Gott in unserer heutigen Welt darstellen und wirken lassen können.

1. Verzicht auf Aggressivität (und Rechthaberei)

Immer wieder berichten mir Menschen von ihren Erfahrungen in Familie, Beruf, Gesellschaft und Kirche, dass die Atmosphäre und das Miteinander der Menschen heute immer stärker geprägt werden von einer aggressiven Grundstimmung und -haltung. Die Lautstärke steige in vielen Gesprächen und Diskussionen, gegenseitige Unterstellungen überbieten sich, Verdächtigungen werden zu einer gewaltigen Kraft. Einen anderen Menschen verstehen zu wollen, auf ihn zu hören, achtsam miteinander umzugehen, davon auszugehen, dass der andere seine eigene begründete Überzeugung hat und mit ihm in einen respektvollen Austausch zu treten, all das scheinen verloren gegangene Tugenden zu sein im persönlichen Miteinander wie in der medialen Kommunikation. Gerade in dieser Situation auf Aggressivität und Härte zu verzichten, wäre ein dem eigenen Leben und dem Leben anderer Menschen dienlicher Verzicht. Die Hybris verunmöglicht ein überlegtes Denken, Sprechen und Handeln. Maßvoll und besonnen sich einzubringen ist dagegen ein Stück ehrlicher Bescheidenheit, die das eigene Leben und das Leben der anderen Menschen erleichtert. Damit ist nicht gegen notwendige und klare Auseinandersetzungen das Wort gesprochen. Aber solche Auseinandersetzungen müssen getragen sein vom dem Bewusstsein der eigenen Begrenztheit in unserem Denken und Handeln, von der Achtsamkeit dem Mitmenschen gegenüber und der Bereitschaft, im Hören aufeinander, das Beste zu suchen und zu finden für mein Gegenüber und für mich selbst. Verzichten auf alle Aggressivität zugunsten von Besonnenheit und sachlicher Klarheit ist ein erster lebensdienlicher Verzicht, auf den ich hinweisen möchte. Ich plädiere für den Verzicht auf Radikalität in unserem Sprechen, in unserem Denken und Handeln zugunsten einer Behutsamkeit und Bedachtsamkeit.

2. Verzicht auf Gleichgültigkeit

Es bewegt mich immer wieder, wie schnell sich viele Menschen in Kirche und Gesellschaft zurückziehen und Verantwortung auf andere Personen abschieben. So erzählen mir Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, wie sehr von ihnen erwartet wird, Erziehungsaufgaben der Eltern zu übernehmen. Auch in der Kirche erleben wir oft die Tendenz, sich gleichsam als Zuschauerin oder Zuschauer aus der Verantwortung herauszustehlen und lieber von außen, oft mit harter Polemik, um sich zu schlagen: Das sollen andere machen, dafür haben wir sie ja in den Kirchenvorstand und den Pfarreirat gewählt, andere werden dafür doch bezahlt. Den Verzicht auf das Abschieben von Verantwortung zugunsten eines engagierten Sich-Selbst-Einbringens

ist ein anderer Verzicht, auf den ich Sie um seines Lebenswertes willen hinweisen möchte. Als Christen wissen wir, dass wir vor Gott Verantwortung tragen. Jeder von uns ist wichtig und in seiner Einmaligkeit, seiner Würde und Größe unersetzbar. Ich danke allen, die in Familie, in Gesellschaft und Kirche Verantwortung übernehmen und auf diese nicht verzichten.

3. Verzicht auf Mutlosigkeit

Ein drittes Feld des Verzichtens möchte ich in Betracht ziehen: Sicherlich leben wir in einer Zeit, in der es viele Gründe für einen Pessimismus gibt: erlebte Ohnmacht, Lebensschicksale, Leiderfahrungen oder das eigene Versagen. Wir tragen aber oft in all den schweren Herausforderungen unserer Zeit auch dazu bei, dass sich immer mehr eine Atmosphäre der Mutlosigkeit ausbreitet. Mutlosigkeit ist nicht nur ein Gefühl, dem wir ohnmächtig ausgeliefert sind, es hat immer auch etwas mit Entscheidung zu tun. Es ist manchmal auch eine persönliche Entscheidung, alles schwarz wahrzunehmen und sich in seinem negativen Grundgefühl bestärkt zu sehen. Darauf zu verzichten und mit Mut und Kraft, oftmals gegen tausend berechtigte Gründe immer wieder aufzustehen, neu anzufangen und zumindest einen positiven Schritt zu gehen und wieder etwas Gutes zu bewegen, ist ein Schritt zu einem weiten und erfüllten Leben.

Liebe Schwestern und Brüder, die Österliche Bußzeit lädt uns dazu ein, Verzicht nicht als ein Weniger, sondern als ein Mehr zu verstehen. Gott schenkt uns diese Möglichkeit. Aus diesem Geist wünsche ich Ihnen und allen Menschen, mit denen Sie privat und im Beruf, in Kirche und Gesellschaft verbunden sind, Gottes Segen.

Heiner Koch

Erzbischof von Berlin

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